Francisco Almado Lobo, CEO von Critical Manufacturing, gibt seine Einschätzung zum Thema Industrie 4.0 ab.
Konnektivität, Erfassung und Mobilität
Moderne Produktionsumgebungen verfügen seit langem über eine hochgradig integrierte Konnektivität. Beispielsweise verwenden einige hochentwickelte Halbleiter- Produktionswerke RFID-Transponder in den Materialbehältern und die Produktionsmittel nutzen bidirektionale Kommunikation über spezielle Schnittstellen. Damit werden Werte aus Sensoren, Alarmen oder Berichten verfügbar gemacht bzw. Rezepturen extern ausgewählt oder heruntergeladen.
Jetzt schafft Industrie 4.0 eine echte Demokratisierung dieser Konnektivität, indem sie deren Verbreitung in Produktionsanlagen unterschiedlicher Entwicklungsstufen erlaubt. Zwei Elemente haben daran ihren Anteil:
1. Das „Internet der Dinge“ (Internet of Things, IoT), im Industrieumfeld Industrielles Internet der Dinge (IIoT) genannt, bedeutet extrem kostengünstige Hardware und schlanke Betriebssysteme (z.B. Windows 10 IoT auf einem Raspberry Pi), sodass eine echte Konnektivität mit den Produktionsmitteln keine aufwändigen Systeme und Schnittstellen voraussetzt.
2. Durch immer erschwinglichere passive Identifizierungs- und Ortungs-Tags können
alle Ressourcen der Produktionsebene (CPS und CPPS) ihre Positionskoordinaten halten. Das MES benötigt logisch autonome Einheiten, um diese Positionsdaten zu speichern und sie in Echtzeit auf interaktiven Lageplänen anzuzeigen.
An der operativen MES-Front wird die Kombination aus Konnektivität und Mobilität besser anpassbare Schnittstellen hervorbringen. MES wird zukünftig aus unterschiedlichen Applikationen bestehen, mit denen die Vision zur Realität wird, ein bestimmtes Produktionsmittel auszuwählen und eine speziell für dieses Produktionsmittel entwickelte Applikation herunterzuladen,die anschließend für dessen Betrieb verwendet wird.
Dieselbe Kombination aus mobilen Geräten und vermehrt verfügbaren zuverlässigen und kostengünstigen Ortungssystemen wird darüber hinaus eine Darstellung der Echtzeitpositionen auf 3D-Lageplänen ermöglichen– und so die Tür zu Szenarien der „Augmented Reality“ weit aufstoßen. Mit dieser Technologie kann sich eine Person virtuell im Werk bewegen und erhält sofort Informationen zur Position der einzelnen Komponenten. Hiervon werden besonders die Wartungsarbeiten profitieren.
Cloud Computing und erweiterte Analysen
Die Vision von Industrie 4.0 einer Smart Factory erfordert einen ganzheitlichen Blick auf die Fertigungsabläufe. Dies ist fraglos nur möglich, wenn die Daten aus unterschiedlichen Quellen schnell und flexibel integriert werden. Daraus folgt, dass ein MES der Zukunft auch Cloud Computing und erweiterteAnalysen nutzbar machen muss.
Während viele MES-Lösungen bereits heute Komponenten für Produktionsinformationen enthalten, muss diese Funktionalität auf die Vielfalt und den Umfang großer Massendaten erweitert werden. CPS und CPPS werden riesige Datenmengen erzeugen, die gespeichert und verarbeitet werden müssen. Um die Leistungsfähigkeit der Produktionsprozesse, die Produktqualität und die Logistikketten-Optimierung vollständig zu verstehen, sind erweiterte Analysen unabdingbar. Darüber hinaus helfen Analysen dabei, anhand von historischen Daten Effizienz-Engpässe aufzuspüren und dem Personal korrektive bzw. vorbeugende Maßnahmen für die betroffenen Bereiche an die Hand zu geben.
Das MES der Zukunft muss beides abdecken:
1. Erweiterte Offline-Analysen mittels hochkomplexer statistischer Prozessmodelle. Diese müssen sowohl anhand strukturierter Daten erfolgen, die in der Regel in einer relationalen Datenbank oder in Data Warehouse Cubes vorgehalten werden – als auch anhand unstrukturierter Daten, die mit herkömmlichen Werkzeugen kaum zu analysieren sind.
2. „Echtzeit“-Analysen, um Maßnahmen im Werk so schnell wie möglich auszulösen, sogar noch vor dem Abspeichern der Daten. Hierzu sind Methoden wie „in-memory“ sowie komplexe Ereignissteuerungen notwendig.
Cloud Computing ist die naheliegende Infrastruktur für die von Industrie 4.0 vorgesehene Geschwindigkeit und Beweglichkeit. Vor Ort installierte Systeme lassen sich deutlich schlechter erweitern und anpassen, sind weniger reaktionsschnell und bringen unvertretbare Kosten mit sich. Die Analyse von Produktionsdaten ist ein Bereich, in dem bereits einige der führenden Produktionsunternehmen damit beginnen, die Cloud zu nutzen.
Kennen Sie Ihr MES?
Ganz gleich, ob man derzeit eine MESLösung verwendet oder nicht – den meisten Unternehmen ist nicht vollständig klar, was aktuelle Systeme leisten können. Die meisten derzeit erhältlichen MES können die Belange eines modernen Produktionswerks abdecken. Außerdem unterstützt ein Großteil einige Aspekte der vertikalen und horizontalen
Integration sowie Mobilität, Clouds und Analysen. Die besonderen Fähigkeiten zum Auf- und Umstieg in Richtung einer Koordination autonomer, dezentraler und dynamischer Aktivitäten sind jedoch von entscheidender Bedeutung und müssen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, um zukunftssichere MES von den übrigen zu unterscheiden. Die Möglichkeiten einiger Systeme, nicht nur die Produktionsabläufe, sondern auch Analyse- und Koordinationsmaßnahmen entlang der Logistikkette zu unterstützen, sind bemerkenswert.
Der Weg zu einem Ziel hat stets einen Anfangspunkt in der gegenwärtigen Situation. Daher sollte man zunächst die derzeitigen Prozesse bewerten, zusammen mit den dafür genutzten IT-Systemen, insbesondere dem MES. Unabhängig von der vom Unternehmen verwendeten Methodik ist hier umfassend zu untersuchen, inwiefern die IT wertschöpfend für das Unternehmen ist. An diesem Punkt kommen die meisten Unternehmen zu der Erkenntnis, dass zu den Bereichen, in denen der Status Quo nicht zur Zukunftsvision passt, die Dezentralisierung und Flexibilität zählen.
Flexibilität
Der Grad der heute erhältlichen Flexibilität deckt in den meisten Fällen nicht einmal annähernd die Handhabung von Unikaten oder Sonderausführungen ab. Das gilt nicht nur für die letzten Arbeitsschritte, sondern für den Kern des Systems. Für den Anlagenbetrieb bedeutet Industrie 4.0, dass es möglicherweise keine Bibliothek wiederholbarer Aktionen wie Standard-Produktwege gibt – und dass MES die Produktionsebene nicht anhand vereinfachter Planungsstandards optimieren kann. Die Optimierung wird stattdessen über einen dezentralen „Marktplatz“ aus CPS und CPPS erfolgen, in dem das MES Standards implementieren muss.
Der Autor
Francisco Almada Lobo besitzt einen MBA und einen Abschluss in Elektrotechnik der Universität von Porto. Er begann seine Laufbahn in einem Forschungs- und Entwicklungsinstitut für CIM-Technologien und wechselte 1997 zur Siemens Halbleiterfertigung. In seinen Stationen bei Siemens, Infineon und Qimonda sammelte er Erfahrungen in verschiedenen Produktionssegmenten. 2004 leitete er die erste Migration eines MES bei laufendem Betrieb einer Massenproduktion. Zwischen 2005 und 2009 leitete er das Porto Development Center für Infineon und Qimonda, einschließlich der Abwicklung von Automatisierungsprojekten in den Werken des Konzerns weltweit. In seiner Rolle als Chief Operating Officer von Critical Manufacturing war Almada Lobo unter anderem für den Produkt Geschäftsbereich verantwortlich. Seit 2010 ist er CEO des Unternehmens.